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Schöner Wohnen I

Dass der Briefkasten seit geraumer Zeit nicht geleert wurde, fiel mir schon auf, aber das war schon einmal vorgekommen und da stellte sich heraus, dass Herr Kahle aus dem 1. Stock für drei Wochen im Krankenhaus war, ohne dass er jemandem aus dem Haus Bescheid gesagt hatte. Überhaupt war er ein unangenehmer Mensch, der die Atmosphäre im Haus durch sein bloßes Dasein schon derart vergiftete, dass man froh war, ihm nicht auch noch auf der Treppe begegnen zu müssen. Ließ sich das nicht vermeiden, schaltete ich von Nasen- auf Mundatmung um, sonst hätte ich mich gewiss übergeben müssen, derart penetrant war Herrn Kahles Körpergeruch. Nie vorher und nicht bis jetzt habe ich Vergleichbares gerochen, altes Männerhautfett, ranziger Talg, fest verankert in ungewaschenen, tagein tagaus getragenen Klamotten und in meinem olfaktorischen Gedächtnis, jederzeit abrufbar, leider. Wenn er seine Wohnung mal verließ, konnte man ihn noch stundenlang im Treppenhaus riechen, ein Graus.

[Herr K. war ein klassische Abgreifer. Eigentlich war er nur im Haus, weil er sich vor Jahren schon an die Vermieterin rangemacht hatte, die zum Zeitpunkt meines Einzugs bereits über 90 war und mit ihm, dem über 20 Jahre Jüngeren, die großzügige Wohnung im 1. Stock teilte. Frau Kreckel war Witwe, wohlhabend und nicht mehr ganz bei Verstand. So regelte Herr Kahle all das, was geschäftlich anfiel. Man hätte auch sagen können, dass er die Frau ausnahm wie eine Weihnachtsgans. Natürlich haben sie nie geheiratet, wegen der Rente, die dann weggefallen wäre und von der Herr Kahle sein Geschäft unterhielt. Er hatte zur Wende nämlich eine "Marktlücke" entdeckt und stellte nun in den Neuen Bundesländern Geldspielautomaten auf. Außerdem war er Spieler und hatte eine Menge Schulden. Das und noch viel mehr erfuhr ich in regelmäßigen Abständen, wenn ich mit Frau Kreckels Tochter, Frau v. E. telefonierte, die einen österreichischen Adligen geheiratet hatte und nun in Wien lebte. Nachdem ihre Mutter irgendwann gestorben war, musste sie sich um die häuslichen Angelegenheiten kümmern. Herr Kahle hatte Wohnrecht bekommen, das Haus selbst ging an die Tochter. So war Frau Kreckel nun tot und Herrn Kahles Geschäfte liefen schlecht. Geld weg, Haus weg, alles Scheiße. Wo er doch immer so für seine "Lenie" gesorgt hatte, wie er mir vorjammerte. Die Sorge erschöpfte sich darin, dass er um die Mittagszeit los zog, einen tragbaren Aluminiumbehälter in der Hand, um von der Großküche des nahe gelegenen Altersheimes für 2,50 Mark ein Essen zu organisieren. Der Rest der Rente floss in seinen persönlichen Wirtschaftskreislauf, der sicher nicht den Kauf von Seife und Kleidung beinhaltete. Zum Schluss stellte sich heraus, dass er auch die Kaution vergeigt hatte, die ich beim Einzug zahlen musste.]

Circa ein halbes Jahr hielt Herr Kahle noch durch, nachdem seine Lebensgefährtin abgedankt hatte. In dieser Zeit verfiel er zusehends, rasierte sich nicht mehr und geisterte im Treppenhaus und Keller herum. Mit Lenies Tod war nicht nur seine Geldquelle versiegt, auch seine Daseinsberechtigung schien verwirkt, denn es war niemand mehr da, den er beständig beschimpfen konnte ("Lenie. Lenie. Lenie. WAS HAST DU NUR GEEE-MACHT! JAA, JAA, JAA!" so meckerte es bisweilen aus der Wohnung).

Es war Oktober als ich mit Frau v. E. telefonierte, weil mir - außer des überquellenden Briefkastens - auch noch ein leiser Geruch auffiel, der vom Altmännertalggestank abwich. Leicht faulig war das, wie Kohl, nur schwach wahrnehmbar. Ein paar Tage später kam ich am Nachmittag nach Hause und sah ein Polizeiauto vor der Tür. Als ich das Treppenhaus betrat fiel ich fast um. Verwesungsgeruch all over und ein sichtlich erschütterter Herr R., ein Freund der Familie, der von Frau v. E. den Schlüssel zur Wohnung bekommen hatte, und der den Auftrag hatte, da mal nachzuhaken. Sowas habe er noch nicht gesehen. Ent-setz-lich! Blau-schwarz sei er im Gesicht, die Augen schon weg, leere Höhlen! Laut Polizei läge er da schon drei bis vier Wochen. Und unter dem Bett sei ein riesiger Fleck Leichenwasser! So ähnlich seine Worte. Unterdessen umbrummten uns dicke Fliegen, eine ganze Menge. Die letzte Woche hatte ich immer mal wieder eine im Treppenhaus am Fenster gesehen, die schwarzhaarig, fett und träge die Scheibe entlang kroch und mich gewundert. Jetzt war das Rätsel gelöst. Herr R. ging nach unten, um im Hof in ein Blumenbeet zu kotzen, wie ich hören konnte. Ich selbst schaltete mal wieder auf Mundatmung um, ich kannte das ja schon. Nachdem Herr Kahle abtransportiert war, gab es für die Fliegen nichts mehr zu holen und sie verstreuten sich im ganzen Haus. Durch jede Ritze kamen sie und mit ihnen dieser Geruch, der in der Tat unverwechselbar ist, unbegreiflich fremd und bedrohlich obendrein. Ich werde mich mal verbrennen lassen. Das stand zwar schon vorher fest, aber jetzt erst recht.

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