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(06.08.2002)

Oma um 1937

Heute, im Zeitalter der automatischen Türdrücker und der Gegensprechanlagen meine Oma zu besuchen ist weitaus ungefährlicher als damals, als man noch aufpassen mußte, nicht von einem speckigen, braunen Lederboxhandschuh erschlagen zu werden, in dem der Haustürschlüssel verborgen war und mit dem man von oben, im Blindflug quasi, die drei Stockwerke tiefer wartenden Einzulassenden bewarf. Noch heute kann ich mich daran erinnern, wie es sich anfühlte, mit meinen Kinderhänden tief im Inneren des Handschuhs nach dem Schlüssel zu tasten, den aufzuheben und herauszuholen stets meine Aufgabe war. Die Gegensprechanlage und die Gastherme sind allerdings die einzige Reminiszenz an die Neuzeit. Die Wohnung meiner Oma, unter dem Dach eines Gründerzeithauses in Coburg, ist seit dem Krieg nahezu unverändert. Noch immer hat sie kein Bad und wäscht sich in der Küche am Waschbecken, ihr Geschirr aber in zwei Emailleschüsseln, die bei Bedarf durch eine 180° Drehung unter dem Küchentisch hervor geschraubt werden. Das Klo ist auf dem Gang, in dessen Dielen die Melodie ungezählter Schritte gespeichert ist.

Alle in unserer Familie sind klein. 1,80 kommt schon mal vor, gilt aber eher als aus der Art geschlagen. Heute, dem altersbedingten Schrumpfungsprozeß unterworfen, ist meine Oma nur mehr winzig zu nennen. Ich tippe auf 1,45 m. Ein Vögelchen. Ganz vorsichtig muß ich sie drücken, meine rechte Hand greift ihre Hand mit den tipptopp gefeilten Nägeln, während ich meine Wange an ihrer reibe und mit dem anderen Arm vorsichtig zudrücke. Dabei sage ich "Ommale! Hallo!", rieche ihre leichte Cognacfahne und sie sagt "Achgott, Kindele!". Seit Jahren. Habe ich ihren Urenkel dabei, beugt sie sich kaum merklich zu ihm hinunter, läßt eine Kinderhand in ihren zwei Händen verschwinden und sagt "Mein Bübele! Hallo!"

Dann betreten wir die seit über 60 Jahren gleich möblierte Wohnküche, in der vor längerer Zeit das soziale Leben einer 7-köpfigen Familie samt derer Derivate und Freunde stattfand. Jeder wurde aufgenommen, jeder gehörte sofort zur Familie, "es war immer was los", wie meine Oma heute noch schwärmt. In dieser Wohnküche wurde in den Spätsechzigern testhalber ein zuvor erworbenes Zelt aufgebaut, bevor einTeil der Familie im VW-Bus nach Jugoslawien fuhr. Weil man ja nicht alle Tage in der Küche ein Zelt aufbaut, wurde das gleich gefeiert. Irgendein Spaßvogel hat dann noch dem schlafenden Vater ("die Genußbremse"), der sich bei solchen Aktivitäten oft frühzeitig zurückzog, während meine Oma immer bis Ultimo mitfeierte, am Bett rechts und links der Füße zwei brennende Kerzen aufgestellt, die später mit den empörten Worten "Noch bin ich nicht tot" in die Küche zurückgeschleudert wurden. Überhaupt wurde immer gefeiert, egal was.

Wir setzen uns an den bereits gedeckten Kaffeetisch und ich packe die mitgebrachten Kuchenstücke aus ("Kindele, nur ein halbes Stück, Du weißt ja..."). Klar, weiß ich. Meine Oma ißt in der Woche ca. 1 Scheibe Brot, das muß man berücksichtigen. Dann werden die Umschläge auf den Tisch gelegt. Seit Jahren verschenkt sie zu Geburtstagen und zu Weihnachten Geld an die Enkel, aber seit sie mal im Fernsehen bei "Nepper, Schlepper, Bauernfänger" vor sog. Briefkastenräubern gewarnt wurde, muß man sich die Umschläge persönlich abholen, die, solange bis man kommt, auf der Eckbank deponiert werden. Früher gab es pro Einheit 50 DM, jetzt, mit der Währungsumstellung, kam natürlich Verunsicherung auf, so daß ich letztens einen 50 Euro Schein vorfand ("Ommale, nicht doch!!"). Meine Oma ist nämlich ziemlich arm, wäre die Miete nicht so billig, könnte sie einpacken.

Der Kuchen ist heruntergewürgt, eine "Fair Play" wird angesteckt. Sie raucht seit ihrem 18. Lebensjahr und wird von den Rauchern in unserer Familie natürlich immer als lebendes Beispiel für die Unbedenklichkeit des Rauchens angeführt. Dann holt sie sich ein Konjäckchen. 'Diplomat' von Aldi, der schmeckt ihr angeblich besser als echter, französischer. Es gab vor ein paar Jahren mal ein Weihnachtsfest, an dem sie von der ganzen Verwandtschaft unabgesprochen entweder mit Cognac oder Zigaretten beschenkt wurde. Bis zur 3. Flasche fand sie es noch lustig, danach wurde es ihr leicht peinlich. Es gibt davon noch ein Foto, auf dem sie auf einem Stuhl sitzend zu sehen ist, umgeben von 7 Flaschen und etlichen Stangen Marlboro. Das Jahr drauf gab es dann nichts von Alledem, weil jeder vom Anderen dachte, daß Derjenige schon für Nachschub sorgen würde. Das war ihr dann auch wieder nicht recht.

Wenn ich will, kann ich nun durch Einwerfen verschiedener Reiz- oder Stichwörter die ganzen alten Geschichten aus ihr herauskitzeln, z. B. wie sie, gerade 18-jährig, mit ihrer Schwester Elsbeth nach Berlin zur Olympiade fuhr, wie sie mehrfach Adolf Hitler in Coburg zujubelte ("Der hat uns alle verhext! Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen."), sie 1939 auf der Veste heiratete, die erste und letzte Trauung dort, weil dann der Krieg ausbrach, wie sie, nach den jeweiligen Fronturlauben meinem Opa zwei Söhne gebar und sie bei Fliegeralarm beinahe jede Nacht mit 2 Kindern und dem Koffer mit dem Nötigsten am Arm vom 3. Stock in den Keller rannte. Als ihr Mann dann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, fand er seinen dritten Sohn vor. Danach kam ein Vierter. Dann meine Lieblingstante, ganz spät und ungewollt, da war sie schon 43. Berichtet wird dann weiterhin von der weißen-Mäuse-Zucht auf den Hängeschränken über der Eckbank, die sich wegen Inzucht leider nicht als das erhoffte lukrative Nebeneinkommen erwies, von den legendären Schrebergartenfesten um das heute denkmalgeschützte Gartenhaus, was ihr Großvater Anfang des 20. Jahrhunderts mit eigenen Händen gebaut hatte, davon, wie sie und ihre Tochter mit vereinten Kräften meinem Opa die Autoschlüssel entrissen, der, obwohl er an schlechten Tagen bereits die Kassiererinnen im Supermarkt wahlweise mit "Heil Hitler" oder per Handkuß begrüßte, partout das Steuer nicht aus der Hand geben wollte, überhaupt von ihrer ganzen Plage mit dem verkalkten, der oftmals mehrere Zigaretten an verschiedenen Plätzen brennen hatte und der sich zu guter Letzt selbst in Brand steckte, aber noch rechtzeitig gelöscht werden konnte, der sie keinen Schritt mehr alleine tun ließ, ihr sogar auf das Klo folgte und zum Schluß seine eigenen Kinder nicht mehr erkannte.

Meine Oma ist die Sorte älterer Frau, die man gelegentlich mit einer großen Handtasche am Arm an einem Geldspielautomaten stehend vorfindet, eine Zockerin. Hätte sie Gelegenheit dazu, wäre sie bestimmt spielsüchtig. Sie kompensiert das mit wöchentlichem Lottospiel und zwar schon seit es Lotto überhaupt gibt. Dabei tippt sie immer die Lebensdaten ihrer Kinder und Enkelkinder, schon seit Jahrzehnten. Das verhindert natürlich den Ausstieg, weil sie die Zahlen immer im Kopf hat und sie automatisch vergleicht. Was, wenn dann der 6er käme? Unverzeihlich! Zumindest die Glücksspirale (10.000 Mark, Monat für Monat, Jahr für Jahr oder so ähnlich), konnte ihr meine Tante kürzlich ausreden. Der einfache Satz, daß sie nun schon 84 sei und der Gewinn nicht übertragbar, reichte aus. Das überschüssige Geld wird nun in Witwentrost angelegt.

Obwohl sie sich, wie so viele Menschen, ihre Sichtweise durch das Anschauen realitätsverzerrender Fernsehsendungen und das Lesen der falschen Zeitungen verbiegen läßt, und daher der Meinung ist, daß die Welt, in der wir heute leben eine sehr viel schlechtere als die frühere ist, hat sie mich kürzlich doch mal wieder überrascht. Ich hatte ihr erzählt, daß ich meinen Freund über Computer "im Internet" kennengelernt habe. Statt eines entsetzten Aufschreis, welchen ich schon aus vielen Mündern erheblich Jüngerer vernommen hatte, nahm sie einfach nur meine Hand, drückte sie fest und wünschte uns viel, viel Glück.

Oma mit Urenkel im Jahr 2000

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