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Mulgatol & Co.

Die vier Säulen, auf denen die Ernährung in meiner Kindheit aufbaute, hießen:

Ravioli aus der Dose (Kohlehydrate)
Mulgatol aus der Tube (Vitamine)
Milchmädchen aus der Tube (Calcium)
Tri-Top Mandarinensirup zum Verdünnen (Flüssigkeit)

Menschen, die wie ich in den frühen 60ern geboren wurden, werden sich an diese Produkte noch erinnern, bzw. eventuell selbst damit groß gezogen worden sein. Dass das nicht besonders wertvoll und gesundheitsfördernd sein kann, ahnte man sicher schon damals, aber zu dieser Zeit herrschte eine gewisse Hörigkeit gegenüber denaturalisierten Lebensmitteln. Kein Wunder: flog man doch bereits Richtung Mond, was die Mitnahme von Kohlköpfen, Kühen und ähnlich sperrigem Ernährungsgut kategorisch ausschloss. Überhaupt wurde alles mobiler. Die Hausfrau löste sich von Heim und Herd, verdiente hinzu und ließ sich dann endlich scheiden. Soll sich der Alte doch selbst die Ravioli heiß machen. Was das betraf, lebte ich als 7-jährige in einem extrem fortschrittlichen Haus. Mir scheint, als sei meine Mutter die erste geschiedene, allein erziehende und berufstätige Frau überhaupt gewesen. Zumindest war ich lange Zeit das einzige Scheidungskind in meiner Klasse. Der damalige soziale Stellenwert eines Scheidungskindes, was zudem als Einzelkind aufwuchs und dessen Mutter darüber hinaus noch berufstätig war, lässt sich auf ein Wort reduzieren: bemitleidenswert! Dass meine Mutter keiner Religionsgemeinschaft angehörte und in "wilder Ehe" mit einem Mann zusammen lebte, der nicht nur äußerlich von den damaligen gängigen Normen abwich (man stelle sich ihn bitte als den ungepflegten Bruder Ivan Rebroffs vor), waren nur noch weitere Steinchen im Mosaik meines gesellschaftlich vorbestimmten Scheiterns. Aus DEM Kind kann ja nichts werden! Entgegen aller Prognosen wurde ich dann aber weder kriminell noch drogensüchtig.

Was "Die kleine Ohrfeige zwischendurch" betrifft, wird ja retrospektiv immer gern behauptet: "Und? Hat es uns irgendwie geschadet? Nein!" Was das angeht, kann ich nicht mitreden. Ohrfeigen gab es bei uns so selten, wie geregelte Essenszeiten, nämlich gar nicht. Aus damaliger Sicht allerdings unverzeihlich fand ich aber, dass ich, so sehr ich auch bettelte und flehte, weder Pferd bekam noch Pony. Auch weigerte sich meine Mutter beharrlich, mir eines dieser Pressspanjugendzimmer aus dem Quelle Katalog zu kaufen (grün-beige oder orange-beige). Schlimm war auch, dass sie, als ich mit 13 zum ersten Mal meine Tage bekam, zum Monatshygieneartikelkauf aus Faulheit den Tante-Emma-Laden um die Ecke aufsuchte, anstatt einfach in eine andere Stadt zu fahren. Die Nachricht, dass die Kleine von der Lehrerin nun auch "ihre Sache" hat, verbreitete sich in einem derart unerhörten Tempo, dass es die Nachbarin bereits wusste, BEVOR meine Mutter vom Einkauf überhaupt zurück war. Und? Hat es mir irgendwie geschadet? Nein!

Aus heutiger Sicht absolut unverzeihlich war auf jeden Fall der mangelhafte Umgang mit meiner Zahnhygiene. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich meine Mutter auch nur einmal zum Zähneputzen angehalten hat. Wohl hatte ich eine Zahnbürste, weiß aber nicht wozu. Einmal daran gewöhnt (Stichwort Mulgatol und Milchmädchen), aß ich die BLENDI Zahncreme mit dem Himbeeraroma und dem lecker Zucker darin direkt aus der Tube. Zum Zahnarzt ging es erst, wenn es nicht mehr ging. Auf wieviel Stühlen sonntagsdienstleistender und deswegen schlechtgelaunter Zahnärzte ich daher saß, weiß ich nicht mehr. Dass ich überhaupt noch originales Zahnmaterial besitze, grenzt an ein Wunder.

Vielen, die in dieser Zeit groß wurden, erging es ähnlich. Man hatte es einfach nicht so mit der gesundheitlichen Aufklärung. Damals gab es noch "Betthupferl", falls sich jemand erinnert, natürlich nur, wenn man anstandslos ins Bett ging und sich dann nicht mehr blicken ließ. Aber wenn Cassius Clay boxte, durften Kinder unter der Woche auch gern mal etwas länger aufbleiben und vom Eierlikör naschen. Heute undenkbar. Bei der kleinsten Erkältung wurde man mit Penicillinsaft abgefüllt, sodass monatelang alles bakterielle Leben in einem vernichtet war. Danach noch eine Wurmkur. Auf dem CD-Duschmittel prangte stolz der Hinweis "mit Formaldehyd" und keiner wusste so recht, was das überhaupt war. Bestimmt was ganz Besonderes! Als Krönung führe ich noch die Teflonpfanne meiner Mutter an, deren Beschichtung so zerkratzt war, dass von Antihaft eigentlich keine Rede mehr sein konnte. Trotzdem wurde sie lange, vielleicht zu lange, nicht ausgemustert. Und? Hat es uns irgendwie....?
Mal schaun, ob ich alt genug werde, um das heraus zu finden.
croco (Gast) - 8. Feb, 19:32

Hieß das Vitaminzeugs nicht Sanostol?
Schreckliche Kindheit.
Wir aßen Eszet-Schnitten, bis uns schlecht war. Mussten um sieben zu Hause sein. Ob wir im Wald , im Park oder sonstwo waren, würde nicht überprüft. Dafür durften wir Milch holen in großen Alukannen, die wir kaum schleppen konnten. Das Rausgeld musste genau stimmen.
Bubblegum hieß der Kaugummi mit den großen Blasen und Süßigkeiten waren unglaublich bunt.
Übrigens kratzte man den Schimmel von der Marmelade und von Brot. Der Rest wurde aufgegessen.

Auch, und das Apfelschampooo hatte ich ganz vergessen.
Was war das nur für eine gefährliche Zeit!

Frau Rossi - 9. Feb, 15:15

So wie man damals entweder "Pelikan" oder "Geha" war, lief das wohl auch mit den Vitaminpräparaten. Es gab Kinder, die bekamen Sanostol (was gerade wieder beworben wird, das hat mich ja überhaupt darauf gebracht) und andere, die nahmen Mulgatol. Ich habs gegoogelt, das gibts übrigens immer noch. Wahrscheinlich jetzt ohne all die schädlichen Konservierungsstoffe und ohne Zucker!

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