herz I-V
(Die Nacht in Berlin irgendwo in der Anklamer Straße war sehr kurz. Wie immer, wenn ich woanders liegen muss, kann ich erstmal nicht schlafen. Das Prinzessin auf der Erbse Syndrom. Gegen 7 Uhr morgens dämmere ich kurz weg, drei Stunden später sitzen wir schon vor dem "Weltempfänger" und frühstücken. Um uns herum zugereiste Berlinpaare mit gefühlten 347 Kindern. Achja, Mitte. Soll ja jetzt die Gegend in Berlin sein, in der diese zugereisten Berlinpaare ihre Eier legen. Wie immer kann ich mit dieser Stadt nichts anfangen. Zu laut, zu schnell, zu alles, was meinem Nervenkostüm auf Dauer nur Schaden zufügen würde. Dass man mit dieser Stadt nichts anfangen kann, darf man aber vor diesen, aus der Provinz angereisten Menschen, keinesfalls erwähnen. Außer man möchte mitleidig belächelt werden, dann natürlich schon. Schon am Abend zuvor, als wir in einem Hinterhof in der Schönhauser Allee bei einem meiner zahlreichen provinzflüchtigen Bekannten um ein Lagerfeuer saßen, durfte ich mir wieder anhören, wie toll und multikulti das hier alles sei und dass man sich ja keinesfalls ein Leben ohne dieses Berlin mehr vorstellen möchte. Im Laufe des Abends dann aber dennoch Bedenken seitens der bekinderten Fraktion. Jaaa, es gebe ja schon hübsche, auch durchaus sehr preiswerte Anwesen im Berliner Umland, aber die Glatzen da! Jaja, schlimm, das. Und dann, in welche Schule wird man sein Kind in 5 Jahren wohl noch schicken können? Alles recht brennende Fragen. Multikulti scheint ja wunderbar, solange die eigenen Kinder nicht damit die Schulbank drücken müssen, so lerne ich an diesem Abend.)
Am Sonntag um die Mittagszeit laufen wir also wieder durch den Park der Virchow Kliniken zur Intensivstation. Die Choreogaphie mit den Kitteln in der Schleuse ist uns nun bekannt, wir stehen bereit, als uns eine Pflegerin abholt. Bevor wir ins Zimmer dürfen, klärt sie uns auf, wie schlecht es um unseren Freund steht. Immer wieder sind wir verwundert über die Offenheit des Personals, denn immerhin sind wir ja keine direkten Verwandten. Seit der Transplantation mache Herr K. einen Schritt vor und 2 zurück. Auf was das hinauslaufe wisse man ja - es gäbe faktisch nur Rückschritte. Gerade heute ginge es ihm besonders schlecht, er sei überhaupt nicht ansprechbar. Als wir dann neben seinem Bett stehen sehen wir was sie meinte. Wo gestern noch deutliche Anzeichen von Leben war, scheint heute alles Lebendige von ihm gewichen. Sein Gesicht ist wächsern und im oberen Drittel gelblich, die Nase spitz, nach unten zu verläuft die Hautfarbe in ein bläuliches Rot. Hier liegt keiner mehr, der auch noch im Entferntesten beseelt scheint, hier liegt die Hülle unseres Freundes, dessen Seele sich irgendwann in den Stunden zuvor von seinem Leib getrennt hatte, und obwohl die Maschinen sämtliche Körperfunktionen aufrecht erhielten, spürten wir deutlich, dass wir unseren Freund gestern zum letzten Mal lebend gesehen hatten. Ganze fünf Tage nach unserer Abreise hielten die Ärzte diesen Zustand noch aufrecht. Dann gaben sie dem steten Drängen der Eltern nach und schalteten die Maschinen ab.
Frau Rossi - 4. Jun, 16:53
Nach zwei Stunden am Intensivbett sind wir am Ende. Die Arme unseres Freundes sind durch das melken nur unmerklich dünner geworden und jetzt, da wir sie los gelassen haben, werden sie sich sehr bald wieder mit Wasser füllen. Zwischenzeitlich kam mal eine Ärztin herein. Bemerkenswert die Tatsache, dass sie weder an sein Bett herantrat noch irgendwie sonst in Kontakt mit unserem Freund kam. Nicht einmal einen Blick hat sie auf ihn geworfen, ich schwöre. Als wären wir nicht da, trat sie sofort in einen Dialog mit dem Pfleger, aus dem hervor ging, dass sie mit der Medikamentierung des Herrn K. nicht einverstanden sei. Von diesem Mittel brauche er mehr, jene Dosis müsse ebenfalls erhöht werden. Ihr genügte dabei ein Blick auf den Monitor, um mit geschultem Auge herauszufinden, dass der Arzt aus der Schicht vorher ihre Therapie scheinbar geändert hatte. Dem Einwand des Pflegers, Herr K. wäre mit der Dosis an blutdruckhebenden Medikamenten schon längst an die Grenze des Aushaltbaren gekommen, wurde lapidar entgegen gehalten: "Dann müssen wir halt wieder mehr sedieren." Schon war sie auch wieder weg. Während der Pfleger die Anweisungen der Ärztin umsetzt, müssen wir uns anhören, was er im Grunde von dem ganzen Laden hier hält. Kein Blatt nimmt er sich vor den Mund und meine Freundin und ich sind bass erstaunt, was dieser Mensch alles so von sich gibt. Erstaunlich auch sein Statement, dass hier jeder Arzt sich mit einer anderen Therapie am Patienten profilieren möchte. So komme es immer wieder vor, dass ein Patient jeden Tag eine andere, manchmal völlig gegensätzliche Medikamentierung bekomme. Gut sei das ja wohl nicht, oder? So und noch anders spricht er, lässt eine Menge Frust ab, uns sprachlos zurück und wir unseren Freund. Am nächsten Tag werden wir noch einmal kommen, bevor wir wieder zurück nach B. fahren, das sagen wir ihm noch zum Abschied.
Frau Rossi - 3. Jun, 22:18
Schwierig ist es, so ins Nichts zu sprechen, fast ausgeschlossen. Ich warte darauf, dass meine Freundin etwas sagt. Doch von der anderen Seite des Bettes auch nur hilfloses Schweigen. Irgendwann gebe ich es auf mich unter Druck zu setzen, nur um irgendetwas zu sagen. Meine Blicke schweifen ab. Ich schwitze und spüre, wie mir das Rinnsal über den Rücken in die Ritze meines Hinterns läuft. Hier ist es wie in einer Raumstation. Überall Monitore, auf denen Kurven und Zahlen stehen, die ich nicht deuten kann. Ich zähle 8 Kartuschen mit Medikamenten, die maschinell zugeführt werden. Aus dem Freund heraus und in den Freund hinein führen etliche Schläuche mit Flüssigkeiten. Unterhalb des Kehlkopfes der Tubus, durch den er beatmet wird. Das gibt ein fauchendes Geräusch. Der Brustkasten hebt und senkt sich rhythmisch, ab und an ein Warnton aus dem Computer. In sein Bett hinein, am Fußende, läuft ein dicker Flexschlauch, der die Matratze aufbläst, damit er sich nicht wundliegt. Neben meiner Freundin eine Apparatur, die "LUCY" heißt. Das ist die künstliche Niere. Darunter ein großer Beutel mit klarem, daneben ein großer Beutel mit gelblichem Inhalt. "LUCY" hilft uns, ein Gespräch anzufangen. Meine Freundin erzählt, dass eine gewisse "LUCY" hier seine Nieren wasche. "Die alte Schlampe", setze ich hinterher.
Langsam kommen wir in Fahrt. Können Grüße ausrichten, ihm sagen, wie sehr wir ihn in B. vermissen. Er zwinkert, mit beiden Augen. Er hat uns wohl verstanden! Ein paar Mal noch, in diesen zwei Stunden, in denen wir an seiner Seite stehen, wird er uns anzwinkern. Auch eine Träne wird aus seinem Auge laufen. Warum er plötzlich weinte, weiß ich jetzt nicht mehr. Vielleicht hat meine Freundin ihm erzählt wie schön es wäre, bald wieder mit ihm in B. zu sein?
Frau Rossi - 29. Mai, 23:14
In Köckern-Ost also eine Bockwurst, so will es die Tradition. Das Ritual, vom Freund eingeführt, nie hinterfragt, kritiklos übernommen, so auch heute. Über den Avus rutscht man praktisch bis vor die Virchow-Kliniken. Das, was in meiner Vorstellung im Inneren dieser Anlagen stattfindet, steht im krassen Gegensatz zur Gediegenheit der Architektur. In der Phase der Rekonvaleszenz mit Buch oder Besuch unter den Bäumen auf einer dieser weißen Bänke sitzen, das stelle ich mir sehr schön vor. Und tatsächlich laufen wir an dem einen oder anderen Patienten vorbei, der genau das tut. Einige haben Ständer mit technischem Gerät neben sich stehen, oder zumindest einen Tropf. Endlich vor der Intensiv angekommen müssen wir klingeln. Noch völlig unerfahren lassen wir uns von anderen Besuchern einweisen. Hier die hellblauen, papiernen Hygienekittel, da Ablage für Garderobe. "Die Wertsachen nehmen Sie besser mit rein". Kann man sich Leute vorstellen, die unter diesen Umständen klauen?
Ein Pfleger schleust uns ein. Kurz wird nachgefragt wer wir seien, man hätte uns hier noch gar nicht gesehen. Freunde aus B.? Herr K. bekomme wirklich viel Besuch. "Das ist schön!" Vor der Glastür zum Zimmer bleibt er stehen. Er informiert uns über den Zustand unseres Freundes (sehr schlecht), dass er zwar sediert sei, dennoch partiell aufnahmefähig. Über seine Schulter hinweg erhasche ich einen ersten Blick auf ihn. Der Pfleger händigt uns noch Mundschutz und Hauben aus und zeigt wo wir uns die Hände desinfizieren können. Schon stehen wir im Zimmer, es war gar keine Zeit, sich groß aufzuregen oder Angst zu bekommen, da wir schon vor dem Bett stehen und schlagartig mit dem Anblick konfrontiert werden. Der Pfleger packt uns die Arme unseres Freundes aus und zeigt uns, wie wir das Wasser herausmassieren können ("als würden Sie melken"), das würde dem Freund sehr helfen, einfach von den Fingerspitzen abwärts streichen, nach einer Zeit würde das dann dünner. Ganz viel erzählt der Pfleger noch, während er schon wieder an einer der Tastaturen steht und den Computer neben dem Bett bedient, den Blick starr auf einen der Monitore gerichtet. Erzählen sollen wir, aber bitte keine Fragen stellen, der Patient könne eh nicht antworten. Und immer in Richtung Ohren sprechen, damit das auch ankomme. Durch die Sedierung seien auch die Sinne eingeschränkt, außerdem befinde sich Wasser im Ohr. Beiderseitiges Augenzwinkern signalisiere Verstehen. Sollte uns schlecht werden, dann bitte gleich rausgehen und hinsetzten. Einen Schluck Wasser trinken, durchatmen.
So stehen wir also da, rechts und links vom Bett, jede "melkt" eine dicke Hand und wissen nicht, wie anfangen mit dem Reden. Der Pfleger stört uns irgendwie dabei, außerdem drückt der Kloß im Hals und aus meiner Nase laufen Tränen. Noch kann ich nicht sprechen.
Frau Rossi - 22. Mai, 08:36
In wenigen Stunden werde ich in Berlin einen sehr guten, alten Freund wiedersehen. Kurz vor der Fahrt dahin, in der Nacht zuvor bzw. seit der Entschluss fest steht heute zu fahren, mache ich mir unablässig Gedanken über die Begegnung. Er weiß gar nicht, dass ich komme. Wird er mich erkennen? Wie wird er darauf reagieren? Wird er überhaupt reagieren? Was wird das in mir anrichten, der Anblick seiner Hilflosigkeit? Wie sieht er überhaupt aus, jetzt, nach der Transplantation, die 22 Stunden dauerte und nach Angaben der Ärtze "nicht optimal" verlaufen ist, auf dem schmalen Sims zwischen Leben und Tod balancierend? Noch gestern früh wusste keiner, ob er die nächsten Stunden überstehen wird, denn erst versagten die Nieren, jetzt zickt die Leber. Zwischendrin noch eine Operation am Darm (Anus praeter?), dazu das neue Herz, was nicht von alleine schlagen möchte.
Ich habe Bilder im Kopf, deren Zutreffen ich nachher überprüfen werde. Ich weiß, dass er beatmet wird, dass seine Augen unkontrolliert rollen und dass er ohne Anschluss an die Maschinen binnen kürzester Zeit sterben muss. Ich weiß auch, dass mir das Herz, kurz bevor ich an sein Bett trete, bis zum Hals klopfen wird, schon jetzt bekomme ich beim Gedanken daran feuchte Handflächen. Wahrscheinlich werde ich nichts sagen können.
Als ich mich vorhin anzog, dachte ich nur: nimm was Billiges, Neutrales, was du hinterher getrost wegschmeißen kannst. Denn damals, am Sterbebett meines Vaters, trug ich unglücklicher Weise meinen Lieblingspulli. Jedes Mal, wenn ich ihn wieder anzog, musste ich daran denken, dass ich diesen Pulli an hatte, als ich meinem Vater zum letzten Mal die Hand hielt. Der Pullover und dieses Bild waren nicht mehr voneinander zu trennen, ich musste ihn wegschmeißen. Dass mir jetzt solche banalen Dinge durch den Kopf gehen, macht mir heute nichts mehr aus. Das Leben ist wohl einfach so. Banal, schrecklich und dazwischen gehts mal so.
Frau Rossi - 19. Mai, 08:11